Im Glücksrausch der Doppelgriffe

von Günter Moseler, Münstersche Zeitung, 12. Juli 2017

Den Parnass erstürmen oder in Archivkrater abstürzen – ein Jahrtausend lang ba- lancierten Kunstwerke auf diesem Grat zwischen Sein und Nichtsein. So scheinen die Meisterwerke vom Feldherrenhügel glänzender Aufführungen einen Bannstrahl auf jene Stücke zu werfen, denen das Licht der Öffentlichkeit schnöde verweigert wird. Das Sommer-Semesterkonzert des Collegium musicum instrumentale unter Jürgen Tiedemann leistete im Hörsaal 1 – nicht zum ersten Mal – eine Art Wiedergutmachung, diesmal mit Henri Vieuxtemps’ Violinkonzert Nr.4 d-moll op. 31.

Mit der norwegischen Geigerin Eldbjørg Hemsing focht eine virtuose Advokatin für die zirzensischen Wonnen einer Musik, die sich ebenso in schlafwandlerischer Melancholie verlieren konnte. Hier konnte die Violine nur als Primadonna auftreten, ihr hohes „d“ im Pianissimo, der Aufstieg zum „a“ überschritt souverän die Grenzen zum Sphärischen.

Tiedemann spornte das Orchester zu theatralischem Zugriff an: Posaunen und Pauke ließen alttestamentarischen Furor aufflackern, das Tremolo der Streicher ließ Katastrophen erahnen. Da hatte die Solistin schon eine Partie zu parieren, deren chromatisch verzahnte Höhen- und Sturzflüge den Glücksrausch risikoreicher Skalen, Oktav-Gänge und Doppelgriffe demonstrierten. In der Solokadenz dominierte endgültig narzisstische Artistik, die Hemsing mit Noblesse veredelte, während das Scherzo an allzu unverbindlichen Floskeln haarscharf vorbeisauste. Im Finale musste die Geigerin dem zweifelhaften Reiz eines Rondo-Themas folgen, das klang, als wolle man mit einem nassen Streichholz einen Blitz nachahmen. Großer Jubel, denn schön war es doch!

Jeder Takt und jeder Ton der Sinfonie Nr. 1 von Johannes Brahms klingen wie ein Plädoyer für Komplexität als Vorbedingung musikalischer Größe. Musikalische Konsequenz als äußerste thematische Verdichtung wur- de im Orchester hörbar durch großzügige Perspektiven technischer Korrektheit. So hochdramatisch die Musiker hier agierten, so sehr intonierten sie während des „Andante sostenuto“ im Land ungefähren Gelingens. Aber als sei nur das Schwierige das Gute, erkämpfte man sich mit einem entspannt interpretierten dritten Satz die Führung zurück, um im großformatigen Finale dessen energetische Kräfte in der Coda zuzuspitzen, deren Synkopen mit einem Tigersprung im 20. Jahrhundert zu landen scheinen. Beifall im großen Maßstab für ein Konzert, in dem Begeisterung und Musikalität über die Tücken der Materie triumphierten.