Aus der Traum für die Viola – Collegium musicum mit Ilan Schneider im H 1
von Markus Küper, Westfälische Nachrichten, 29. Juni 2006
Die fixe Idee ist ausgeträumt. Von hoch obenaus der letzten Sitzreihe wagt die Viola, dieses oft verschmähte Instrument, einen letzten Anlauf. In ganz nach innen gekehrter Streichquartett-Besetzung verlischt ihre warme Stimme, die längst nicht mehr von dieser Welt zu kommen scheint. Eine Ahnung wächst: Die polternden Räuber haben Herold überrumpelt. Die räumliche Apotheose des empfindsamen Individualisten – sie wird übertost von dem rauschenden Tutti des Orchesters, erstickt im knackigsten Blechbläsertriumph: Aus der Traum! Wie Jürgen Tiedemanns „Collegium musicum“ und Solist Ilan Schneider dieses finale Schurken-Gelage von Berlioz‘ symphonischem Bralschenkonzert „Harold in Italien“ im Großen Hörsaal H 1 inszenieren, ist einfach großartig. Der Rest dieses Berlioz’schen Selbstporträts in Lord Byrons Harold-Gewand ebenfalls: vom gefühligen Eins-mit-der-Natur-Spaziergang durch die Abruzzen, über das innerliche Einstimmen des Helden in das gesungene Abendgebet vorüberziehender Pilger bis zum Schalmeien-Ständchen des pastoralen Dorfidylls. Vom brilliant orchestrierten Doppelfugen-Beginn an ist das alles wunderbar ausgeleuchtet. Gerade weil hier der Kampf des romantischen Subjektes gegen die chaotische Außenwelt ein solch abgründig vergeblicher ist.
Sofort wird klar, warum Teufelsgeiger Paganini (dem eitlen Auftraggeber) dieses bis zur Unhörbarkeit verdichtete Violengewebe nicht zusagte. Er zählte seine Pausen des ersten Salzes und lehnte entrüstet ab: „Ich muss die ganze Zeit spielen!“ Sprach’s und schrieb sich kurzerhand selbst ein Konzert. Genauer, die „Sonala per la gran Viola“, aus der Schneider denn auch zuvor das machte, was sie ist: eine echte Zirkusnummer. Mit der Viola als Primadonna und einem Orchester. das sie genügsam nach dem Muster einer Bellini- oder Donizetti-Arie ins Rampenlicht stellt. Dort, zwischen all den kühnen Doppelgriffen, Flageolett-Zaubereien und Bogentricks darf der Virtuosin allenfalls die Piccolo-Flöte kurzfristig Paroli bieten und ein launiges Marschthema imitieren. Sehr keck.
Aber natürlich kein Vergleich zu Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, diesem zerrissenen Seelengemälde nach Byrons gleichnamigen dramatischem Gedicht von 1817. Dass die antithetische Natur Schumanns sich in diesem einsamen, ruhelos umhergetriebenen Antihelden dämonischer Provenienz wiederfand – Tiedemann und sein „Collegium musicum“ lassen daran keinen Zweifel. Vom dominantisch-plagal aufreißenden Beginn an tauchen sie tief, wenn auch mit reichlich akademisch anmutender Seelenbewegung ein in dieses zähflüssige chromatische Geschiebe, diese sprechenden Gesten „düstrer Glut“ (Goethe), die mit ihren schillernden Dur-Moll-Schattierungen, ihren schroffen emotionalen Brüchen ein eindrucksvolles Panorama des Byron’schen Seelendramas in den Ohren entstehen lassen. Da wäre der melodramatische Rest, der schon unter Liszt in Weimar floppte, bloß Staffage. Erst recht bei solch einem choralhaften Himmels-Epilog in Moll, solch einer diskreten Ahnung von Erlösung, wie sie bei diesem Semesterabschluss-Konzert zelebriert wurde. Bravo!